Mäßigung, Verzicht und der ‚innere Schweinehund‘ – ein enkeluntauglicher Teufelskreis?
27.08.2014 | von Erik Fritzsche

Dass Mäßigung langfristig nichts Schlechtes sein muss, wird selten bestritten und erscheint längst nicht nur dem Gebildeten wie eine Binsenweisheit. In Form vieler medizinischer Zusammenhänge schlägt uns dies allenthalben entgegen: Iss und trink weniger! Hör‘ auf zu rauchen! Weniger Stress! Beweg‘ Dich mehr!
Wir vernehmen dabei eine unselige Schwingung: Zwar wird es uns besser gehen, wenn wir Maß halten; doch leider scheint das überhaupt keinen Spaß zu machen. Schon wenn wir solche Mahnungen hören oder lesen, denken wir an nichts als Verzicht. Es spannt sich uns der Nacken an und es regen sich in uns allerlei Widerstände, kurzum: Es erwacht der berühmte innere Schweinehund – den wir fürchterlich finden, auf den wir nicht selten wütend werden könnten, und dem wir doch nicht Herr werden: Führt uns aber Mäßigung unabwendbar in solche Verzichtgefühle und in einen wenig aussichtsreichen Kampf mit diesem berühmten inneren Geschöpf: dem Schweinehund?
Welche starken Seelenkräfte hier am Werk sind, das zeigt sich auch daran, dass die Mäßigung immer schon eine Aufgabe der Königsdisziplin, der Philosophie, war: und zwar mindestens seit Aristoteles im 4. Jahrhundert vor Christus und dann – wieder – sehr zentral über 1500 Jahre später im Denken von Thomas von Aquin. Mäßigung war also nichts, dass nicht des intensiven Nachdenkens für Wert befunden wurde. Dies zeigt sich auch bei Durchsicht der – oft sehr viel älteren – Mythen (z.B. aus der griechischen Mythologie die Geschichte vom König Midas), den biblischen Geschichten (z.B. der Turmbau zu Babel) und so manches Volksmärchen (z.B. jenes vom Fischer und seiner Frau). Diese sind voll von Lehrbeispielen darüber, was mit jenen passiert, die es an ausreichend Mäßigung vermissen lassen. Sehr oft muten die Helden (und sogar so manche Götter) sich und den Mitmenschen mehr zu, als gut für sie ist; selten gelingt es offenbar, selig zu werden mit dem, was beschieden ist; und immer wieder erheben sich die Irdischen über die göttlichen Gebote und die göttliche oder auch natürliche Ordnung. Dabei zahlen die Helden oft einen sehr hohen Preis: Unglück, Tod und Verdammnis, wenigstens jedoch beschwerliche Umwege, dramatische Handlungsverläufe oder hohe Verluste an Mensch und Material.
Tatsächlich also scheint uns Menschen Mäßigung nicht gegeben zu sein, geradezu erscheint sie als Problemtugend: Alle Geschütze der abendländischen Kultur, von rationaler Philosophie über allerlei religiöse Kulte bis hin zu lehrreichen Mythen und Geschichten müssen gegen die Maßlosigkeit aufgefahren werden, um ihr Geltung zu verschaffen – augenscheinlich selbst trotz all dessen nur zu bescheidener Geltung! Und folglich ist man leicht versucht, sich durchaus verzweifelt zu fragen: Wie ist doch die Welt nur unsinnig eingerichtet: dass wir wollen, was schlecht für uns ist; und wir leiden, wenn wir das Begehrte tun?
Doch dieser Befund ist nur eine – wenn auch sehr populäre – Seite der Medaille; sie bestimmt leider den öffentlichen Diskurs um jedes Maßhalten. Entsprechend gering steht sie im Kurs und scheint allenfalls für Sonntagsreden zu taugen, nicht jedoch für die profanen Mühen der Ebene: den Alltag, die Lebensführung, gar die Politik in der Demokratie. Dabei war und ist kein Unsinn, die Mäßigung immer auch als eine Tugend zum Glück zu verstehen. Sogar kann – so die die These – man in dem Maße glücklich werden, wie man (auch) diese Tugenden zur Entfaltung zu bringen vermag. Für Aristoteles waren konkret vier Tugenden bedeutsam, deren Entfaltung er für Glück unabdingbar sah, nämlich die ‚Kardinaltugenden‘: die Weisheit, die Gerechtigkeit, der Mut, und ebene jene der Mäßigung. Die ‚Positive Psychologie‘ entdeckt diese Zusammenhänge heute neu und erforscht sie jenseits philosophischer Spekulationen. Im Unterschied zum oben ausgeführten Spannungsverhältnis zwischen dem Guten im Jetzt und dem Schlechten in der Zukunft (jene Vorstellung also aus dem sich nicht nur der Schweinehund, sondern auch unser Zwist mit ihm nährt), kann Verzicht und Mäßigung als eine unmittelbare Steigerung bzw. Bewahrung der hier und jetzt erlebten ‚subjektiven Lebenszufriedenheit‘ bzw. des ‚Well-beings‘ verstanden werden. Der deutsche Philosoph Martin Heidegger stellte sogar in Vorwegnahme der Kernbotschaft allerlei Bestseller vom Schlage des ‚Simplify-Your-Life-Ansatzes‘ so dar: „Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen.“
Deutlich wird der Zusammenhang aus Mäßigung und einem Zugewinn an Glück und Zufriedenheit auch dann, wenn man sich auf die Suche nach dem ‚rechten Maß‘ begibt. Hier herrscht oft Ratlosigkeit, zumindest jedoch Uneinigkeit darüber, woran man Maß nehmen soll und wie man dies nicht nur für Einen, sondern für Tausende oder gar Millionen zweifelsfrei festsetzen könne. Aristoteles meinte, dieses Problem mit der Kategorie der Mitte lösen zu können: Maß nimmt man an der Mitte. Das erscheint zwar als ein hilfreicher Gedanke, denn Maßlosigkeit kann sehr wohl auch im Zuwenig liegen (etwa zu wenig Bewegung für unsere evolutionsbedingt bewegungsbejahenden Körper). Doch ergibt sich die Mitte wiederum aus den abgemessenen Extremen – was das Problem des rechten Maßes auf diese Weise also nur verschiebt, nicht jedoch löst.
Einen gewissen Ausweg bietet im 21. Jahrhundert vielleicht – wie schon beim evolutionsbedingt bewegungsaffinen menschlichen Körpers angedeutet – die Natur selbst, gerade eben auch die menschliche Natur: Wer mehr an sich und der Welt verbraucht, als er selbst und die Welt zu regenerieren und verarbeiten fähig ist, hat offenbar das Maß verloren. Zwar mag man einwenden, dass die Grenzen der Regenerations- und Verarbeitungsfähigkeit nicht universell sind, insofern auch nicht für allgemeine Gesetze taugen. Doch wird man andererseits nicht bestreiten können, dass die Grenzüberschreitung an sich weniger spekulativ, ja geradezu ein individuelles Erfahrungswissen darstellt. Deutlich wird dies etwa beim Blick auf unseren Umgang mit Objekten, die für unsere Freizeit bestimmt sind und die für viele von uns Bestandteile eines ‚guten Lebens‘ sind: Zwar können wir noch allerhand Bücher, CDs und DVDs besorgen, doch nicht mehr in diesem Umfang lesen, hören oder anschauen; Fahrräder, Autos, Motorräder können gekauft, jedoch nicht mehr bewegt werden; Zimmer mit feinen Möbeln können ausstaffiert, diese allerdings nicht mehr bewohnt werden; Orte mag man wechseln, sie können jedoch nicht mehr als Heimat in Besitz genommen werden. Zu Recht nennt man dergleichen etwa ‚Konsumverstopfung‘ (Niko Paech) oder ‚Freizeitstress‘. Die Mäßigung macht es uns möglich, auf das Maß unserer Genussfähigkeit zurückzufinden und so die positiven, aus der Achtsamkeit entspringenden Erfahrungen zu machen, die mit den geliebten Objekten unserer ganz persönlichen Kultur- und Naturwelt verbunden sind. Maßhalten schafft also erst wieder jene Räume entschleunigter Einfachheit, die für positive Erfahrungen notwendig sind. Maßhalten ist darum kein Spielverderber, sondern gleichsam ein Raumgeber des Glücks.
Die Anzeichen dafür, dass unser Verhalten auch in dem Sinne Mäßigung braucht als wir es dem Maß der Regenerationsfähigkeit der Erde anpassen müssen, verdichten sich: weil insbesondere Mutter Natur an der Verstopfung durch unsere Abfälle und dem Stress durch unsere Inanspruchnahme leidet. Dass auch diese Art der Mäßigung beim Naturverbrauch so glücksnotwendig sein könnte, wie die eben ausgeführte Kur von der ‚Morbus Affluenza‘ (dem ‚Überflusssyndrom‘), dafür gibt es zwar keine Garantie. Doch es erscheint bei rechtem Besehen doch möglich, dass die Welt – glücklicherweise – so eingerichtet ist, dass jenes, was uns auch individuell zum Glück durch Mäßigung verhilft, ein Segen für das „Raumschiff Erde“ (Buckminster Fuller) ist. Zumindest jedoch wäre diese Art der glücklichen Mäßigung eine gute Rückversicherung für alle, die Innovationen den Löwenanteil zuschieben, wenn es um den knappheitsmindernden Umgang unserer planetaren Ressourcen geht: Denn wo wir die materiellen Grenzen unserer Maßlosigkeit weiter verschieben, stillen wir nicht automatisch den Durst unserer Seelen nach Zeit zur Entfaltung und Genuss, nach Muße und Achtsamkeit. Der sich auftuende, gleichsam ‚enkeltaugliche Engelskreis‘ aus Mäßigung, Glück und Nachhaltigkeit, gibt Anlass zur Hoffnung. – Apropos Hoffnung: Sie ist Kardinaltugend im christlichen Tugendkanon. Doch das ist eine andere Geschichte…