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Das richtige Wohlstands-Maß?!

17.09.2014 | von Alexander Löcher

Für Alfred Müller-Armack verwirklichte sich das Prinzip des Wohlstands in der Sozialen Marktwirtschaft, die durch die Verbindung von Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich geprägt ist. Dies ist keine beliebige Mischung, sondern eine ordnungspolitische Idee, die auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft, die freie Initiative mit einem gerade durch marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt verbinden will: „Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das Zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt“ (Ludwig Erhard: Wohlstand für alle, S. 9). So ist es der deutschen Gesellschaft gelungen, die zentrifugalen Kräfte des ökonomischen Fortschritts zu bändigen, zur Mitte zurückzulenken und ein hohes Wohlstandniveau zu erreichen. Erhard war der Auffassung, dass sich die Deutschen mit wachsendem Wohlstandniveau von einer allzu materialistischen Gesinnung lösen und sich über die „Kümmernisse des Alltags“ (ebd., S. 223) erheben würden. 

Psychologische Komponente des Wohlstandsstrebens

Die Wohlstandfrage war für Erhard eine „sozial-ethische“ und keine „ökonomisch-materialistische“ (ebd., S. 223). Er verkannte damit jedoch die psychologische Komponente, die allem Wohlstandstreben innewohnt. Unsere modernen hochindividualisierten Gesellschaften erzeugen einen Statusdruck, dem sich der einzelne nur schwer entziehen kann. Sie lassen das Individuum mit dem Gefühl der relativen Benachteiligung („relative deprivation“) zurück. Ein Gefühl, dass durch den beständigen Vergleich der eigenen Lebenssituation mit der von anderen im unmittelbaren Lebensumfeld herrührt. Je größer die wahrgenommen Unterschiede ausfallen, desto größer wird die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation. Nach Robert Frank, einem US-Ökonom, stellt sich ein Gefühl des Zurückbleibens („falling behind“) ein. Die Angst, mit anderen nicht mithalten zu können. Als Ausweg fallen die meisten Menschen in ein Verhalten, dass Soziologen als „competitive consumption“ („konkurrenzgetriebenes Konsumieren“) bezeichnen: Nicht mehr die Frage nach der eigenen Lebensqualität entscheidet über Konsumentscheidungen, sondern die Frage nach dem sozialen Status. 

Materielle Güter sagen immer etwas über den persönlichen Erfolg ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin aus. Tatsächlich prägen sie Zugehörigkeiten und Identitäten: Wer sich etwas leisten kann, gilt etwas, hat es geschafft. Eine fast orthodoxe Vorstellung von Bürgerlichkeit. So wird materieller Wohlstand oft gleichbedeutend mit Erfolg gesetzt. Wer sich etwas leisten kann, gehört zu den Gewinnern. Entsprechend wird die Lust nach etwas Neuem, nach steigendem Einkommen, nach Besitz, nach immer exotischeren Urlaubsreisen, teureren Autos zu einem Grundbedürfnis im "Kampf um Anerkennung" (Axel Honneth).

Nicht die Qualität des eigenen Lebensstils, sondern die Quantität der Konsumentscheidungen bestimmt den Wert des Einzelnen in unserer Gesellschaft. Der moderne erfolgreiche Mitteleuropäer – meist ein urbaner Typ – definiert sich durch die Summe seiner Konsumentscheidungen. Je elitärer die Produkte und je öfter konsumiert wird, desto höher steigt der vermeintliche gesellschaftliche Status. Gleichzeitig ist Konsum heute auch der einfachste Weg, um sich Anerkennung zu verschaffen: Ein Leasing- oder Konsumkreditvetrag sind heute schnell abgeschlossen, oft auch ohne die notwendigen Sicherheiten. Dem Konsumenten wird es so einfach wie möglich gemacht, an den Segnungen der Konsumglitzerwelt zu partizipieren. Viel zu oft werden Konsumentscheidungen voreilig oder unüberlegt getroffen. Wenn ein Produkt nicht zu den eigenen oder veränderten Bedürfnissen passt, wird es halt ausgetauscht  – gegen ein Neues: die „IKEAisierung“ unserer Warenwelt macht es möglich.  

Bei einem Grossteil unserer Bedürfnisse handelt es sich jedoch keinesfalls um reale Nöte oder Erfordernisse, sondern um externe, an uns herangetragene Bedürfniskonstruktionen – meist medial vermittelt. Emotionen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Über Emotionen werden (Konsum-)Produkte mit Sinn aufgeladen. Nicht das Produkt als solches steht im Mittelpunkt, sondern die positiven Attribute des Produktes, die auf den Konsumenten abfärben sollen. Erfolgreiche Marken verkaufen ihre Produkte nicht durch rationale Argumente in Bezug auf einen Gebrauchswert der Dinge, sondern über einen konstruierten „Lifestyle“. Und wenn der Nachbar schon wieder mit dem neusten Modell einer deutschen Premiummarke auf den Hof fährt, dann ist es nicht das Auto selbst, sondern die impliziten Botschaften, die sein stolzer Besitzer damit kommuniziert: Ein bisschen ist er dann so, wie eines der Modelle aus den Hochglanzwerbeheftchen. Und sind wir ehrlich: Ein wenig ticken wir doch alle so. Seien es nun Klamotten, Autos oder Handys: der Besitz eines bestimmten Produktes symbolisiert einen gewissen Status. Und mit dem Statusgewinn ist meist eine Hoffnung auf höhere Anerkennung bei bestimmten Personen oder Personengruppen verbunden. 

Nebenfolgen unseres Wohlstands

Unser heutiger Wohlstandsbegriff muss auf den Prüfstand gestellt werden. Es bedarf einer Neuverhandlung seiner „mentalen Infrastruktur“ (Harald Welzer). Unser Wohlstand ist weder voraussetzungslos noch grenzenlos steigerbar. Unser Lebens- und Konsumstil zeitigt erhebliche Folgen und Nebenfolgen, die für den Einzelnen, aufgrund der Komplexität der globalen Produktionsmöglichkeiten nur noch schwer ersichtlich sind. Mit chirurgischer Präzision – und riesigen Marketingetats – haben es viele der allseits beliebten Markenartikelhersteller geschafft, die negativen Folgen unseres Konsumverhaltens zu kaschieren. Wir sehen nur noch das Hochglanzprodukt, die Begierde unserer Konsumfantasien. Die zumeist negativen Folgen unserer Wohlstandsmehrung wurden ausgelagert: in Länder und Regionen, die viele von uns nie sehen werden. „Aus den Augen aus dem Sinn“, heißt es so schön. Nur weil etwas im hier und jetzt  nicht  präsent ist, ist es jedoch noch nicht aus der Welt! Natürlich ist es schwer, sich die Arbeitsbedingungen der Näherinnen vor Augen zu halten, die unsere billigen T-Shirts nähen oder die Unmengen an Wasser, die bei der Produktion einer Jeans noch immer verschwendet werden. Diese Dinge sind allerdings real, sie passieren im hier und jetzt, nur oft mehrere tausend Kilometer von uns entfernt. 

Unser Handeln verursacht Kosten, die auch von uns getragen werden müssen. Welchen Wohlstand sollten oder können wir uns also leisten? Eine Wohlstandmehrung zu Lasten Dritter oder auf Kredit ist nicht nur verantwortungslos oder moralisch fragwürdig, sondern wird auch nur von kurzer Dauer sein. Die Rechnung wird uns – wahrscheinlich früher als später – präsentiert werden. Kann es also Wohlstand sein, wenn wir billige Produkte mit hohen sozialen und ökologischen Folgekosten konsumieren. Solchermaßen künstlich verbilligte Produkte sind ein Luxus, den wir uns unter Wohlstandsgesichtspunkten nicht leisten können (sollten). Wer Wohlstand als einen stetig wachsenden Verbrauch von Gütern und Ressourcen ansieht, wird sich in nicht allzu ferner Zukunft fragen lassen müssen, ob er dafür wirklich die gesamte Rechnung beglichen hat. Die Antwort wird wohl ein klares NEIN sein (müssen). Denn das Verursacherprinzip kommt nicht zur Anwendung: Vielmehr müssen sich derzeit andere unser Wohlstandsmodell leisten können! Unser Verhalten kommt dem Verteilen ungedeckter Schecks gleich: Solange diese nicht bei der Bank eingelöst werden, kann die Party weiter gehen. Dabei ist die Insolvenz unseres ressourcenverschwendenden Lebensstils absehbar.

Bei unserem Verhalten handelt es sich nicht in erster Linie um die Bankrotterklärung unserer moralischen Grundlagen. Wäre es so, dann würde diesem Befund zwar eine gewisse Tragik innewohnen, mehr jedoch nicht. Die Krux des Ganzen liegt viel tiefer. Der Glaube an wachsenden Wohlstand entpuppt sich mehr und mehr als eine konstruierte Realität. Der individualisierte westliche Lebensstil fußt auf drei zentralen Prinzipien: der Massenproduktion, d.h. den komplexen, mechanisierten wie standardisierten Verfahrensweisen – der Massenmobilität, d.h. dem globalen Transport von Personen und Gütern  –  und der Massenkommunikation, d.h. der räumlichen und zeitlichen Entkopplung physischer Präsenz. Diese drei Prinzipien bestimmen unseren materiellen Wohlstand. Ob diese Prinzipien unsere Lebensqualität steigern können, bleibt indes fraglich. Es wird immer offensichtlicher, dass unser vermeintlich fortschrittsgeleitetes Handeln die Grundlagen unseres Wohlstands, wenn nicht zerstört, so aber doch erheblich negativ beeinträchtigt.

Das rechte Maß?

Aus all dem folgt: Unserem Handeln ist vielfach das rechte Maß verloren gegangen. Wohlstand wird gleichgesetzt mit Überfluss von Gütern aller Art. Nicht deren Qualität bestimmt unser Denken, sondern ihre Quantität. Nicht mehr das Produkt steht um Fokus unserer Aufmerksamkeit, sondern dessen permanente Verfügbarkeit. Konsumgesellschaften sind auf das hier und jetzt gepolt, Denk- und Handlungsweisen sind auf den Augenblick gerichtet. Bedürfnisse gilt es sofort zu befriedigen, bevor sie in Konkurrenz zu einander treten. Dafür sind wir nicht nur bereit Mehrkosten in Kauf zu nehmen, wir verlagern diese auch zusehends in die Zukunft, im Glauben diese steigenden Lasten später bewältigen zu können. Doch was ist das richtige Maß für unseren Wohlstand? Die Antwort auf diese Frage klingt reichlich banal: Das richtige Wohlstandsmaß ergibt sich aus der Stabilität unserer sozialen und ökologischen Systeme. In der Mechanik wird dieser Zustand als ein Kräftegleichgewicht beschrieben. Verschiebt sich dieses Kräftegleichgewicht werden Systeme instabil bzw. ist in diesem Fall ein größerer Krafteinsatz notwendig, um die Stabilität halten zu können. Unser derzeitiges Wohlstandsmaß verschiebt die Gleichgewichte in den sozialen und ökologischen Teilsysteme  zu gunsten des wirtschaftlichen Teilssystems. Je mehr dieses vormalige Gleichgewicht außer Balance gerät, desto höher sind die Anstrengungen (Kosten), die aufgebracht werden müssen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Solange wir unseren Wohlstand als ein rein materielles Gut betrachten, wird sich das Ungleichgewicht auf der sozialen und ökologischen Seite weiter verstärken. 

Nun kann eine solche Erkenntnis, schon mit Blick auf die menschliche Psyche, nicht in eine reine Verzichtsrhetorik münden. Nur wenige Menschen sind dazu bereit, aus rein altruistischen Gründen, auf die eigene Wohlstandsmaximierung zu verzichten, nur weil ihnen gesagt wurde, dass eine solche Verhaltensweise nicht nachhaltig ist. Die meisten Menschen sind - auch weil unsere Kultur sie dazu regelrecht erzieht - kurzfristige Nutzenmaximierer, ein Verhalten, dass aus evolutionsbiologischer Perspektive höchst rational erscheint. Aus soziologischer Perspektive wird es jedoch zum Problem, da ein solches selbstreferenzielles Verhalten von Individuen in der Masse langfristig unserer sozialen und ökologischen Grundlagen zerstört.

Drei Kerndimensionen für die Verhaltensänderung

Um Menschen zu Verhaltensänderungen zu bewegen, müssen drei Kerndimensionen der (individuellen) Leistungsmotivation angesprochen werden. Sie müssen die Fähigkeit, Möglichkeit und Bereitschaft besitzen, ihr Verhalten dauerhaft ändern zu wollen. Mit Fähigkeiten ist das Wissen um die Grundlagen einer sozial-ökologischen Lebensweise gemeint. Dabei geht es nicht nur um reines Faktenwissen, sondern auch um Regelwissen, dass dem eigenen Handeln Sinn und Legitimation verleiht. Wer die Folgen seines Handelns kennt bzw. reflektiert, dem wird es leichter fallen, sich entsprechend zu Verhalten (Prinzip der Selbstwirksamkeit). Natürlich muss ein jeder auch die Möglichkeit dazu haben, sich ein solches Wissen anzueignen und einen sozial-ökologischen Lebensstil zu pflegen. Hierfür ist ein gewisser Wohlstand notwendig. Wer zwölf Stunden am Tag damit beschäftigt ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, der wird sich – aus nachvollziehbaren Gründen – keine Gedanken mehr über sein Konsumverhalten machen. Neben den Fähigkeiten und Möglichkeiten braucht es auch eine gewisse Bereitschaft, sich der kognitiven wie normativen Ordnung einer sozial-ökologischen Lebensweise zu unterwerfen. Es reicht nicht, nur die Regeln zu kennen, sie müssen das eigene Handeln auch begründen und begrenzen. Ebenso dienen diese Regeln dazu, die eigene Wahrnehmung zu strukturieren und die Realität interaktiv mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft auszuhandeln, durch den Gebrauch von Symbolen. Dies geschieht in der sozialen Kommunikation – z.B. durch eine klares Bekenntnis zu einer vegetarischen Ernährungsweise oder die bewusste Entscheidung, auf ein eigenes Auto zu verzichten. Diese Dinge gilt es zu kommunizieren. Dogmatismus ist dabei aber fehl am Platz, denn ideologisch überspitzte Forderungen produzieren meist Abwehrreaktionen, und nicht selten sind sie nicht angemessen, da man schwerlich eine Forderung erheben kann, die für alle gleichermaßen sinnvoll ist. Vielmehr gilt es, die Bereitschaft zur Veränderung vieler Menschen zu nutzen, an ihre Fähigkeiten zum Wandel zu appellieren und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie Veränderungen bewirken können. 

Fazit

Der Verweis auf das richtige Maß in unserem Handeln hat nicht in erster Linie etwas mit Verzicht zu tun. Das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen, resultiert aus der Wahrnehmung, bestehende bzw. gewohnte oder neue Bedürfnisse nicht befriedigen zu können. Wer jedoch die Fähigkeit, Möglichkeit und Bereitschaft besitzt, den Ursprung seiner Bedürfnisse und die Folgen ihrer Befriedigung zu reflektieren, wird eher bereit sein, sein Verhalten zu ändern. Es gilt die eigenen Bedürfnisse kritisch zu hinterfragen, anstatt nach deren bloßer Befriedigung zu streben. 

Wir sollten also lernen, hinter die Hochglanzkulisse unserer bunten Wahrenwelt zu schauen. Wir sollten uns für die Historie von Produkten interessieren. Wir sollten lernen, Konsum wieder zweckrationaler zu betrachten und uns weniger von Emotionen leiten zu lassen. Erst die Fähigkeit, Möglichkeit und Bereitschaft sich mit diesen Phänomenen auseinanderzusetzen, schafft eine gewisse innere Freiheit und Distanz zu den uns umgebenden Bedürfniswelten. Wir sollten unsere eigenen Bedürfnisse besser kennen und diesen folgen, nicht aber vermeintlichen, von außen an uns herangetragen Erfordernissen hinterher jagen. Wer in der Selbstbeschränkung eine Befreiung von äußeren Zwängen erkennt, der wird im Verzicht nicht mehr einen bloßen Verlust sehen, sondern die Chance, eine neue Art des Wohlstands zu erlangen.