Über Maß und Maßlosigkeit im Web 2.0 – Dave Eggers schreibt das „1984“ unserer Zeit
04.01.2015 | von Benedikt Brunner

Wem dieser Tage in der Straßenbahn oder im Café ein signalroter Wälzer mit einem kryptischen Symbol auf dem Cover auffällt, der hat höchstwahrscheinlich Dave Eggers‘ neuen Bestseller „Der Circle“ erspäht. Da die Textgattung Buchrezension ein hohes Maß an Subjektivität zulässt, darf ich diesen Satz schreiben: Hören Sie auf, anderen beim Lesen zuzuschauen – und lesen Sie dieses Buch selbst! Sie werden Ihre Facebook-Aktivitäten, Ihre Kartenzahlungen und Ihre Arztbesuche mit anderen Augen sehen. Ach ja: und Ihren nächsten Waldspaziergang.
Der Circle – so heißt ein gigantisches Unternehmen in der San Francisco Bay Area, der neue Megastar im Herzen des Silicon Valley. Geniale IT-Experten mit einem Riesenhaufen Geld im Rücken entwickeln am laufenden Band Hard- und Softwarerevolutionen, die eine ständig wachsende Zahl von Menschen anziehen wie Kuhmist die Fliegen: einen einzigen Account für alle technischen, finanziellen und medizinischen Angelegenheiten des menschlichen Daseins; ein lückenloses System von hundertmillionenfach in der Welt verstreuten, lollygroßen, autonomen Echtzeitkameras; ein soziales Netzwerk, dessen Sogwirkung das Facebook öder erscheinen lässt als das Telefonbuch von Lüdenscheid. Die Innovationskraft des Circle kennt kein Maß und keine Mitte, und das fasziniert, zuerst Tausende, dann Millionen und schließlich Milliarden.
Als die junge und idealistische Mae Holland ihren Job beim Circle antritt, tun sich der Campus und seine Atmosphäre von Gemeinschaft, Kreativität und Liberalität vor ihr auf wie ein irdisches Paradies. Hier also entsteht sie: die neue, die vermeintlich bessere Welt von morgen, demokratisch, gerecht, völlig durchrationalisiert, die Welt, in der wir alle leben wollen. Oder etwa nicht? Stück für Stück wird Mae vom Circle und seinen Verheißungen aufgesogen, und Stück für Stück erwachsen daraus verheerendere Folgen, für sie, für ihre Familie und Freunde und schließlich für die Menschheit im Ganzen. Während die Hauptfigur immer tiefer in den Strudel hineingerät und dabei mit größter Zuverlässigkeit sämtliche Warnzeichen ignoriert, ja sogar zunehmend begeistert und schließlich fanatisiert wird, schwant dem Leser Böses. Dann, auf den letzten 150 Seiten, legt der Autor noch einmal richtig los. Mehr wird nicht verraten.
Dave Eggers dreht mit „Der Circle“ das ganz große Rad. Dabei ist seine Idee gar nicht neu, im Gegenteil. „Der Circle“ ist weder Tatsachenroman noch Sachbuch, wenngleich er viele erschütternd vertraute Berührungspunkte mit unserem Leben aufweist. Er ist eine Dystopie, also eine Anti-Utopie, eine negative Zukunftsvision, eine idealtypisch gezeichnete Entwicklungsgeschichte hinein in die gesellschaftliche Katastrophe. Vorgänger und deutliches Vorbild ist die Dystopie „1984“, in der George Orwell kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Stalinismus das Horrorszenario der perfekten totalitären Diktatur entwirft. Viele Bausteine aus „1984“ setzt Eggers geistvoll variiert ein, etwa den allmächtigen „Big Brother“ (die „Drei Weisen“), die nicht abschaltbaren Kommunikationsgeräte (omnipräsente Kameras, Monitore, Armbänder etc.) oder die allgegenwärtigen Parolen, die auf dem Campus verstreut den Brainwash der Figuren vervollkommnen. LESEN SIE DIESES BUCH. (Gut, das war ich.)
In einem Punkt jedoch weicht Eggers deutlich von Orwell ab, und das macht aus „Der Circle“ mehr als nur einen intelligenten Abklatsch von „1984“: In seinen Totalitarismus – den der neuen Zeit – begeben sich die Menschen völlig freiwillig hinein. Wir machen uns komplett gläsern, physisch wie psychisch? Wie praktisch! Wir werden immer und überall und bei allem gefilmt? Großartig! Wir teilen alles mit allen und jedem alles mit, jede Bewegung, jedes Erlebnis, jede noch so kleine Aktion oder Emotion? Vorbildlich sozial! Wir verlieren unsere Autonomie und unsere Individualität, und wir finden es wunderbar. Wir rühren den Zement unseres totalitären Gefängnisses höchstselbst an und mauern uns damit ein, und wir lieben es. Das Bonmot des Wiener Kabarettisten Michael Niavarani, Facebook sei Stasi auf freiwilliger Basis, verblasst völlig gegenüber dem grandiosen Szenario, das Eggers mit sprachlicher Gewandtheit und struktureller Klarheit errichtet. Scharf wie eine Satire, schwer wie ein Drama, seherisch wie Orwells Vision – nur zeitgemäßer.
„Der Circle“ hat die intellektuelle Kraft, das „1984“ der 2.0-Ära und dessen zu werden, was anschließend kommt. Nicht mehr und nicht weniger. Auf keiner der 558 Seiten vermittelt Eggers den Eindruck, seine Leser verängstigen zu wollen. Seine besondere Leistung besteht darin, dass er nachhaltig sensibilisiert. Sensibilisiert für die technischen Möglichkeiten und die technische Versuchung jedes einzelnen Menschen und der Menschheit im Ganzen. Und sensibilisiert für die Gefahren, die sich auftun, wenn diese Versuchung in einer maßlosen, einer mäßigungslosen Welt ihre volle Wirkung entfaltet. Am Ende manifestiert sich eine – so freilich nirgends formulierte – Erkenntnis: Maß und Mäßigung in diese Welt zu tragen ist, wie bei allen Themen hier auf modereco.de, keine Aufgabe für die Menschheit. Es ist eine Aufgabe für den einzelnen Menschen. Wer sie nicht annimmt, der muss sich nicht wundern, wenn er eines Tages beim Waldspaziergang… na ja.
„Der Circle“ von Dave Eggers ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch und kostet 22,99 Euro.